Kurzgeschichte “Ohne Titel”
Als er nach unruhigen Träumen erwachte, war ihm direkt klar, dass sich etwas verändert hatte. Das Bett, in dem er seine Augen aufschlug, war nicht das Seine. Ein hektischer Blick zur Seite, aber keine Frau lag neben ihm. Ein Glück! Wie hätte er es ansonsten seiner Frau erklärt? Diese Situationen waren ihm bisher erspart geblieben, aber nur aufgrund eisener Disziplin. Das Bett war hart und die Tapete in komischer Art altmodisch. War er bei einer älteren Dame zu Hause? OK, also kurze Rekapitulation des letzten Abends: Er war nach der Arbeit noch mit zwei Herren der östlichen Firma Essen gewesen, um über das neue Projekt irgendwo in Norwegen zu sprechen. Mann, er konnte sich einfach diesen komisch nordischen Namen nicht merken, es war zum verrückt werden. Aber jetzt gab es wichtigere Themen als dieses vermaledeite Nest. Bei dem Essen gab es ein wenig Alkohol, aber zu wenig für einen derartigen Filmriss, der den Anblick dieses fremden Zimmers erklären würde. Was passierte also nach diesem Lokal in der Innenstadt? Er wollte direkt nach Hause fahren, so weit, so klar, aber dann verließen ihn die Gedanken. War er zu Hause angekommen? Keine Erinnerung! Er wollte eigentlich gestern mit seiner Frau den zehnten Hochzeitstag feiern. Oh Gott, sie wird ihm nie verzeihen und ihn erst einmal drei Tage nicht ansprechen. Die Kinder hatten Sie extra bei den Schwiegereltern untergebracht, die mal wieder ein wenig gemurrt hatten und durchklingen ließen, dass sie einen Termin absagen müssten. Senioren, kann man da nur sagen! Nie Zeit für die wichtigen Dinge im Leben, aber immer für Skat, Baccara, Kir Royal und einen rauchenden Grill im Garten. Wenn Sie nicht so fit wären, würde er sie gerne ins Altersheim stecken! Ein weiteres Problem wäre wohl, das es nicht seine eigenen, sondern die Eltern seiner Frau waren. Außerdem fiel ihm auch direkt ein anderes wichtiges Argument dagegen ein: Wer sollte sich sonst um die Kinder kümmern? Sie taten es nicht widerspruchsfrei, aber sie nahmen Sie. Nie länger als zwei Nächte, das war die Verabredung, und nach den Gesichtern bei den Terminabsprachen sehr widerwillig. Nach den Worten seines Sohnes rissen Sie sich aber anscheinend regelrecht alle Beine aus, um die kleinen Racker zufrieden zu stellen. Fernsehen, Fritten und jede Menge Süßes, obwohl das ihnen von seiner Frau ausdrücklich verboten wurde. Ihm war bewusst, dass er zu wenig Zeit mit seinen Kindern und seiner Frau verbrachte, aber die Arbeit ließ nichts anderes zu. Es waren meist zwölf- bis vierzehn Stundentage und das Wochenende war in den seltensten Fällen frei. Er liebte zwar das was er tat, aber bei Zeiten überfiel in die Müdigkeit. Es war keine rein physische Ermattung, sondern wie als wenn der gesamte Körper, von den Gedanken im Kopf über das Herz bis zu den Füßen in einer Art sonntagmorgendlichen Erstarrung verfielen. Zwar aufgewacht, aber bis zum Sanktnimmerleinstag liegen bleiben wollend, ohne Gedanken im Kopf oder irgendein anderes störendes Gefühl, leer sein, wie in einer Hülle gefangen. Seit drei Jahren war er nun Abteilungsleiter einer Investmentfirma, die Firmen aufkaufte, um sie dann zu sanieren um mit Gewinn wieder zu verkaufen. Ein nicht ganz ehrenwertes Geschäft, wie seine Schwiegereltern ihn immer erinnerten, denn meistens hieß das für viele tausende Mitarbeiter den Gang zum Arbeitsamt. Früher hatte er immer gekontert, dass ohne ihn sich die gesamte Belegschaft hätte arbeitslos melden müssen, obwohl er ihnen gegenüber vergaß zu erwähnen, dass viele Firmen ohne ihn eine viel bessere Zukunft gehabt hätten. Mittlerweile ertrug er Ihre Hasstiraden über den ausufernden Kapitalismus in einem angelernten Zynikertum. Früher wollte er Feuerwehrmann werden. Dieses Heldentum, wie die Männer sich wagemutig in die Flammen stürzten um ein kleines Kind, in Decken eingewickelt, aus den Flammen zu retten, war für ihn lange Zeit der Inbegriff eines erfüllten Lebens gewesen. Solange zumindest bis er verstand wie die Welt funktionierte. Komischerweise hatte sich der Feuerwehrmann auch bei seiner Tochter im Kopf eingenistet, obwohl er ihr nie von seinen eigenen Träumen erzählt hatte. Schon interessant! Hatte er es seiner Tochter vererbt? Gibt es in der Erbsubstanz ein bestimmtes “Feuerwehr-Mann”, bzw. “-Frau”-Gen? Oder hatte er durch die Auswahl des morgendlichen Müslis unwissentlich dazu beigetragen, dass Sie nun ständig, wenn Sie die Sirenen hörte, unruhig hinten im Auto sich reckte und streckte, um einen Blick auf die Helden, auf ihrem Weg zur Arbeit zu ergattern? Fördert eine bestimmte Weizensorte diesen Wunsch? Warum war sein Sohn nicht von diesem Wahn betroffen? Bei ihm könnte man es zumindest verstehen. Schon oft hatte er sich gefragt, wie und warum er zu dem geworden ist, der er nun war. Was hatte sein Vater ihm mitgegeben und in welcher Form? Wäre er der heutige, wenn er wie sein Vater den Krieg hautnah miterlebt hätte? Wahrscheinlich nicht Was wäre gewesen ohne Geschwister aufzuwachsen, in einem anderen Land, oder adoptiert von ganz anderen Eltern großgezogen?! Von den Wünschen seines Vaters als Kind wusste er eigentlich nichts, zu wenig hatte man miteinander über solche “Intimitäten” gesprochen. Seit er selber Kinder hatte fing er ein wenig an sich Gedanken über seinen eigenen Vater zu machen. Der war aber zu dem Zeitpunkt schon tot, so dass sich seine Gedanken in erster Linie auf Erinnerungen beriefen, und die waren nicht die Besten.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken, eine Tür die aufging und eine Stimme, die bestimmt und mit einem genervten Unterton “Guten Morgen, Herr Nowak” in den Raum schrie. Er versuchte seinen Kopf zu drehen um diese Tonquelle zu identifizieren, aber es ging nicht. Der Befehl zum Drehen des Kopfes ging eindeutig aus seinem Neocortex zu seinen Muskeln, aber sein Blick war unverändert an die Decke geheftet, und am äußeren Rand auf diese furchtbare Tapete. “Na, wie geht es uns denn heute” schrie die Stimme in sein linkes Ohr und nun schob sich ruckartig ein Gesicht vor das seine. Er wollte zurück geifern “Gar nicht gut! Wo bin ich und wer um Gottes Willen sind SIE?” Aber auch diese Information ging anscheinend in seinen Nervenbahnen verloren. Was ging hier vor? Die unfreundliche Stimme fing nun an irgendetwas an der linken Bettseite zu bearbeiten. Er hörte das Fließen von Flüssigkeit in einen Behälter, gefolgt von den Worten “Na, da waren wir aber fleissig heute Nacht,wie?” Der Geruch von abgestandenem Urin drang ihm in die Nase. Die Stimme entfernte sich, kam aber direkt mit diesem entschlossenem Schritt zurück und stellte etwas neben seinem Kopf ab. Im selben Moment wurde auch schon sein linker Arm in die Höhe gerissen und ein kaltes, nasses Stück Stoff fing an ihn zu bearbeiten. Der Arm kam in sein Blickfeld, und er erschrak, denn das war nicht seiner! Zumindest hatte er bis gestern noch nicht so viele Falten und so eine schlaffe Haut. Überall hing sie von den Knochen wie ein Vorhang, der gerade aus der Waschmaschine kommt und dringend gebügelt gehört. War er nicht mehr er? Was passierte hier? Die Frau hatte ihn mit seinem Namen angesprochen und er wusste doch noch wer er war. Hatte er dreißig Jahre im Koma gelegen? “Ihr Sohn kommt erst nächste Woche vorbei, er hat angerufen…. aber Sie bekommen es ja ohnehin nicht mit, dass er immer nur fünf Minuten bleibt, nicht wahr?” Ein herzloses Lachen ertönte. Sein Arm wurde unsanft fallen gelassen und nun rammte dieses kalte Stück Stoff sich grob zwischen seine Beine und fing dort nicht an zu waschen, sondern gefühlt eher zu zermalmen. Er wollte aufschreien, aber auch das funktionierte nicht.
Es war eher ein innerer RUF, der jedoch bewirkte, dass das Kalte warm und das Grobe zart wurde. Eine leise und zarte Stimme flüsterte nun in sein rechtes Ohr “Gestern warst Du ja so etwas von platt… mein Lieber… komm mal etwas näher zu mir….” Er drehte seinen Kopf und sein Leben war gerettet.